Archetektur und Hülle

Flechten und Weben haben den gleichen Ursprung und stehen am Anfang der Kulturentwicklung des Menschen. Das lässt sich an verschiedenen Wortverwandtschaften aufspüren. Die indogermanische Wurzel plek mit der Bedeutung flechten, wickeln findet sich auch in gr. plekein und lat. plectere. Die Worte lat. texere (weben, flechten), gr. tekton (Zimmermann, Baumeister, Architekt), gr. techne (Handwerk, Kunst, Wissenschaft) verweisen auf die indogermanische Wurzel tek, mit der Bedeutung: zusammenfügend hervorbringen, sowie zeugen, Leben hervorbringen. Das sind Begriffe, die im Zusammenhang schöpferischer Tätigkeiten des Menschen stehen.

 

Flechten und Weben dienen der Erweiterung der Leiblichkeit des Menschen durch künstliche Hüllen. Die biologisch gegebene Unfertigkeit und Unvollkommenheit des Menschen provoziert Ergänzung und Erweiterung seiner leiblichen Existenz. Flechten, Winden und Weben führen zu Behausung und Hülle, zu Wand und Gewand in gröberer und feinerer Art. Es sind Erzeugnisse einer Urtechnik (Archetektur) die dem Menschen das erste  Dach (lat. tectum) als Bedeckung seiner Schutzlosigkeit in Haus und Kleid (lat. textilis) boten.

 

Der Schutzgedanke lässt sich noch weiter führen. Wie man im Nest des Vogels eine nach außen verlagerte Gebärmutter entdecken kann, taucht analog im Bild der Wiege und im weiteren Sinne der Schutzhülle (Hütte, Gewand) ein Stück Verlängerung der intrauterinen Daseinsqualitäten (bergendes Umhülltsein) auf. Wand und Gewand erweitern die leibliche Existenz und sind zugleich Bild für die Leiblichkeit des Menschen. Bild für die Scheidung zwischen Umgebung und Innenraum, Äußerlichkeit und Innerlichkeit. Der Mensch bedarf dieser Scheidung zu seiner Verinnerlichung, seiner Personifikation.

 

Die Suche nach den Anfängen des Flechtens in der Vergangenheit führt zugleich auf verschiedene Wurzeln der Sprache, der Benennung von Tätigkeit und Ding. Es zeigt sich ein inniger Zusammenhang des Flechtens mit der Menschwerdung am Ursprung der Kulturentwicklung überhaupt. Hierauf will dieser Text (aus lat. textus: Gewebe, Geflecht, Verbindung, Zusammenhang) aufmerksam machen. Leiten sich doch auch die Begriffe Werk und wirken den Sprachwurzeln folgend aus Flechten, mit Flechtwerk umgehen heraus. In diesem Ursprungssinne des Wortes möchte ich meine Arbeitsergebnisse als mein Werk bezeichnen, als meinen textilen Beitrag zur Wirklichkeit.

 

März 1995