Flechten und Denken

Die Arbeit des Flechtens beinhaltet eine Aufeinanderfolge und ein Ineinandergreifen bestimmter Tätigkeiten wie sammeln, sortieren, ordnen, zählen, kombinieren, variieren, verbinden, verknüpfen…

 

Flechten als auch dessen feinere Variante, das Weben sind ein sichtbar anschaulich vollzogenes, regelrecht didaktisch ablesbares Verfahren zur Herstellung eines Verbundes, eine Urform handgreiflich verknüpfender Tätigkeit. Als Ergebnis entsteht Gefüge, Gewebe, Zusammenhang, Gebilde, Werk…

 

Eine Analogie des Tätigkeit des Flechtens und des Webens zu Schritten des kombinierende Denkens spricht aus der Doppelbedeutung solcher Worte wie zum Beispiel wirken, verwoben, Verflechtung, Text, Wirklichkeit… Entsprechungen auf zwei Ebenen klingen an: der Ebene unmittelbar anschaulich handelnden Vollzugs und der Ebene kognitiver Funktionen, des kombinierenden Denkens.

 

Ergebnisse dieser zusammenhangbildenden Arbeit auf der ersten Ebene sind vom Ursprung her gesehen die Hüllen des Menschen, räumliche Abgrenzungen wie

 

Gewand

 

Hütte, Decke, Verdeck (lat. tectum für Dach)

 

Zaun und engl. town (umfriedeter, umzäunter Ort von mhd. tünen was zäunen bedeutet)

 

Das sind Archetypen des Geborgenseins und zu sich Kommens für Individuen, Familiengruppen und Gemeinschaften.

 

Auf der zweiten Ebene, des kombinierenden Denkens ist das Ergebnis die Verknüpfung der Erfahrungen über die Denktätigkeit zum Weltbild, zur Hülle des ideellen Zusammenhangs, in dem wir uns beheimatet finden und in ein reiches Beziehungsgeflecht hineinverwoben erfahren.

 

Lässt sich im Ersteren, dem Flechten und Weben, eine handgreifliche Einübung, eine im Sichtbaren und Fassbaren vollzogene Einarbeitung in die zweite Ebene, des logisch verknüpfenden Denkens erfahren?

 

Das Wort „Begriff“ weist in seiner Doppelbedeutung darauf hin, wie der Mensch ein verstehendes Verhältnis zu seiner Umwelt gewinnt – eben durch das Begreifen!

 

Beim Kind im frühen Entwicklungsstadium wird das ganz deutlich. Handanlegendes Betasten und Ergreifen der Dinge seiner Umgebung sind Voraussetzung für die Ausbildung gesättigter Begriffe. Das begreifende, das verstehende Verhältnis zur Welt wird vom Kinde handelnd gewonnen. In einem vergleichbaren Sinne lässt sich die Art der Begriffsbildung, der Entwicklung des Denkens beim archaischen Menschen vorstellen – als aus der handgreiflichen Arbeit an und mit den Dingen seiner Umgebung erwachsen. Ein handelndes Hineinarbeiten in die Zusammenhänge und Eigenschaften der dinglichen Welt ist Grundlage seiner Welterfahrung. Flechten und Weben als Urformen des Handwerkens vermitteln diesbezüglich Basiserlebnisse von Verknüpfung, Verwobenheit, Vernetzung, Verflechtung…

 

Dem Zeitgenossen begegnen diese Begriffe nun auf einer ganz neuen Ebene – der Verknüpfung von Daten und Informationen in einem weltumspannenden Datennetz. Eine zunehmend digitalisierte Lebensumwelt nimmt den Menschen hinein in diese Zusammenhänge.

 

Die Geschichte der handwerklichen, künstlerischen und technischen Erfindungen des Menschen lässt sich unter dem besonderen Gesichtspunkt betrachten, wie der Mensch in diesen Erfindungen sich selbst ergänzt, wie er die in seiner Physis und seiner generellen Natur veranlagten Defizite ausgleicht und sich künstliche Organe schafft. Oder wie er bereits veranlagte Funktionen und Möglichkeiten spezifiziert und vervollkommnet. So sind die geflochtenen und gewobenen Hüllen des Menschen neben elementaren Werkzeugen seine ersten selbstgeschaffenen Ergänzungen, die aus der Unvollkommenheit seiner leiblichen Konstitution gegenüber klimatischen und anderen Bedingungen provoziert wurden.

 

Im Computer kann man, aus dieser Blickrichtung gesehen das jüngste künstliche Organ erblicken, das sich der Mensch als Ergänzung seiner ihm veranlagten Möglichkeiten hinzuerfunden hat – die nach Außen-Setzung und Instrumentalisierung logischer Funktionen.

 

Es ist offensichtlich, dass die jüngste Ergänzung, die der Mensch sich schuf, der Computer, im Verbund weltumspannender Datenverarbeitungssysteme eine gravierende Veränderung der Lebensvollzüge mit sich bringt.

 

Die Tendenz ist beobachtbar den Menschen selbst an seinem Werk zu messen – das menschliche Gehirn nach dem Muster des Computers erklären zu wollen, menschliche Bewußtseinsprozesse in Analogie zu elektronischen Rechnerprozessen zu sehen.

 

Die Bereicherung durch die unüberschaubaren Möglichkeiten, die die Erfindung und Anwendung des Computers eröffnet steht außer Frage. Fragwürdig wird es allerdings, wenn die Entwicklung dahin geht statt das Instrument den Menschen, den Menschen an sein Instrument anzupassen. Sei es, ihn nach dem Muster des Computers erklären zu wollen, oder sei es ,dass in einseitiger Weise bereits im Kindesalter eine maßgebliche Prägung durch elektronische Medien erfolgt. Den Menschen allein von seiner rationalen Seite her definieren und darauf reduzieren zu wollen wäre einseitig und ungesund. Er ist Naturmensch und Handwerkender seiner Herkunft nach!

 

Die Ursprünge seiner Natur kann der Mensch ja vielleicht gerade im Kontrast zu einer zunehmend artifiziellen, von PC und elektronischen Medien geprägten Lebensumwelt neu und in neuer Tiefe erkennen und erfahren.

 

Februar 1996